Gespenster
Julia Hummer (Nina)   Benno Fürmann, Sabine Timoteo, Julia Hummer und Regisseur Christian Petzold   Françoise (Marianne Balser)

Aus einer Zeit, in der das Wünschen nicht mehr geholfen hat

Ganz wenige Märchen der Gebrüder Grimm beginnen nicht mit „Es war einmal ...“.
Einen der schönsten Anfänge hat der Froschkönig. „Aus einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat ...“

Gespenster hat zwei Wurzeln. Vor gut einem Jahr war ich in den Ardennen, in Sedan und Charleroi, und auf einem Postamt sah ich Fotos verschwundener Mädchen aus Belgien und Frankreich. Schon lange waren diese Mädchen verschwunden. Es gab immer das letzte Foto, das von ihnen gemacht worden ist. Und dann eine Reihe Bilder, die ein Computer errechnet hatte, die die Mädchen darstellten, so wie sie vor drei Jahren, vor zwei und dann auch heute aussehen könnten. Diese errechneten Portraits waren merkwürdig geisterhaft. Auf diesen Bildern sah man Antlitze, ohne soziale Alterung, merkwürdig blass, nicht von dieser Welt. Eigentlich tot. Gespensterportraits.

In diesem Jahr las ich meiner Tochter an jedem Abend ein Märchen der Gebrüder Grimm vor. Viele dieser Märchen sind brutal, sie entstanden während des dreißigjährigen Krieges, in einer furchtbaren und haltlosen Welt. Die Märchen erzählen diese Welt. Und versuchen, Trost zu spenden. Ein Märchen hieß Das Totenhemdchen. Ein Mädchen ist gestorben, vier, fünf Jahre alt. Die Mutter kann den Verlust nicht verwinden. Sie weint, jeden Tag, jede Nacht. Plötzlich hört sie Geräusche im Haus. Und sieht ihr totes Kind, im Totenhemdchen, wie sie sitzt, an ihrem Tischchen, wo sie immer gefrühstückt hat. Und sieht sie spielen, im Zimmer, in ihrer Ecke, die noch unberührt ist. Das geht einige Tage. Die Mutter spricht ihre tote Tochter an. Die Tochter ist verzweifelt. „Mama, du musst aufhören, um mich zu weinen. Denn sonst komme ich nicht in den Himmel. Dein Leid lässt mich nicht los!“ Aber die Mutter schafft das nicht, das Loslassen. Erst am Ende kann das Mädchen in den Himmel. Ein furchtbares Märchen. Weniger für meine Tochter, die an den Himmel glaubt, wie alle ihre siebenjährigen Freundinnen um sie herum. Die stellen sich den Himl als einen riesigen Kindergeburtstag vor.

Aus dem Totenhemdchen und den Gespensterportraits ist dann der Film entstanden. Der Gedanke war, dass eines der errechneten Mädchen aus dem Postamt in Sedan in Berlin lebt. Und von seiner Mutter gesucht wird.

Christian Petzold, Dezember 2004

 

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