Aus einer Zeit, in der das Wünschen nicht mehr
geholfen hat
Ganz wenige Märchen der Gebrüder Grimm beginnen
nicht mit „Es
war einmal ...“.
Einen der schönsten Anfänge hat der Froschkönig. „Aus
einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat ...“
Gespenster hat zwei Wurzeln. Vor gut einem Jahr war ich
in den Ardennen, in Sedan und Charleroi, und auf einem Postamt sah ich
Fotos verschwundener Mädchen aus Belgien und Frankreich. Schon lange
waren diese Mädchen
verschwunden. Es gab immer das letzte Foto, das von ihnen gemacht worden
ist. Und dann eine Reihe Bilder, die ein Computer errechnet hatte, die
die Mädchen darstellten, so wie sie vor drei Jahren, vor zwei und
dann auch heute aussehen könnten. Diese errechneten Portraits waren
merkwürdig geisterhaft. Auf diesen Bildern sah man Antlitze, ohne
soziale Alterung, merkwürdig blass, nicht von dieser Welt. Eigentlich
tot. Gespensterportraits.
In diesem Jahr las ich meiner Tochter an jedem Abend ein Märchen
der Gebrüder Grimm vor. Viele dieser Märchen sind brutal, sie
entstanden während des dreißigjährigen Krieges, in einer
furchtbaren und haltlosen Welt. Die Märchen erzählen diese Welt.
Und versuchen, Trost zu spenden. Ein Märchen hieß Das Totenhemdchen.
Ein Mädchen ist gestorben, vier, fünf Jahre alt. Die Mutter
kann den Verlust nicht verwinden. Sie weint, jeden Tag, jede Nacht. Plötzlich
hört sie Geräusche im Haus. Und sieht ihr totes Kind, im Totenhemdchen,
wie sie sitzt, an ihrem Tischchen, wo sie immer gefrühstückt
hat. Und sieht sie spielen, im Zimmer, in ihrer Ecke, die noch unberührt
ist. Das geht einige Tage. Die Mutter spricht ihre tote Tochter an. Die
Tochter ist verzweifelt. „Mama, du musst aufhören, um mich
zu weinen. Denn sonst komme ich nicht in den Himmel. Dein Leid lässt
mich nicht los!“ Aber die Mutter schafft das nicht, das Loslassen.
Erst am Ende kann das Mädchen in den Himmel. Ein furchtbares Märchen.
Weniger für meine Tochter, die an den Himmel glaubt, wie alle ihre
siebenjährigen Freundinnen um sie herum. Die stellen sich den Himl
als einen riesigen Kindergeburtstag vor.
Aus dem Totenhemdchen und den Gespensterportraits
ist dann der Film entstanden. Der Gedanke war, dass eines der errechneten
Mädchen aus
dem Postamt in Sedan in Berlin lebt. Und von seiner Mutter gesucht wird.
Christian Petzold, Dezember 2004
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